Maske

maske von dana berg


„Das ist worüber niemand spricht nur weiß
wie’s Gräben schlägt in sich um alles
und das heißt beschütze mich
und vielleicht springt etwas über wo die Atmung sitzt ….“

Kerstin Preiwuß / Taupunkt



Eine Freundin schickt ein kurzes Video. Sie erzählt von einer Odyssee. Sie wollte Stoff kaufen, um Masken zu nähen, sie musste weit fahren und als sie ankam, hatte sie das wichtigste Utensil vergessen: die Maske, ohne die man den Stoffladen nicht betreten durfte. Sie wühlte in ihrer Tasche. Sie fand etwas und hielt es sich schützend vor das Gesicht: Ein Slip.


Noch ist nicht zu ahnen, dass der Slip bald zum Symbol einer neuen Bewegung mutiert.


Meine Freundin ist Schneiderin. Sie näht ausgefallene Hosen und Röcke, für ausgefallene Menschen. Doch niemand benötigt ausgefallene Hosen und Röcke, wenn man leger zuhause verwahrlosen kann. Es ist Mitte April, die Maskenfrage ist (außerhalb des Stoffladens) noch virulent und doch ahnen wir, dass man demnächst nicht nur Masken benötigen wird, um Stoffe zu kaufen. Meine Freundin sattelt um, es wird ihr die Existenz und manchen – so bleibt zu vermuten – sogar das Leben retten. Zwei Wochen später war die Maske nicht mehr obligatorisch, sondern verpflichtend. Gefühlte zwei Wochen darauf, lag, was eben noch heiß erkämpftes Gut war – an dem politische Debatten entbrannten und das auf dem Schwarzmarkt zu unmöglichen Preisen gedealt wurde – auf der Straße wie Streugut herum. Ich komme nicht umhin, in den Masken eine nächste ökologische Katastrophe zu deuten. Delphine, die an Masken ersticken, Müllmänner und-frauen, die darin versinken. Ich komme nicht umhin, angesichts dessen, über uns, über mich, über dem Mangelwesen Mensch zu verzweifeln.


Meine Hausärztin erklärt, wenn es nach ihr gehen würde, wäre die Maske zu jeder Grippesaison verpflichtend. Sie hat gesehen, was den meisten (glücklicherweise), was mir nur durch Hören-Sagen vermittelt ist und schildert mir die Angst der Patient*innen vorm Ersticken, von den Schmerzen der Intubation und den Folgeschäden.


Apnoe, lese ich bei Kerstin Preiwuß. Erst klemmt es und dann immer das Gedränge.


Dabei habe ich bereits eine hinreichende Ahnung davon, ich hatte es nur vergessen, genauer verdrängt: mein Bruder. Ein Frühchen. Kurz nach der Geburt, gerade wenige Tage aus dem Krankenhaus entlassen, erkrankte er an einer schweren Lungenentzündung und fuhr auf Monate wieder ein, wenig später kam der Pseudokrupp, die Mineralwolle-Krankheit unserer Kleinstadtexistenz.


Ich erinnere mich an die Krämpfe, das Keuchen, die erstickten Schreie, die Atemnot. Apnoe. Ich erinnere mich an dieses kleine, zerbrechliche Wesen, das um Luft rang, an sein scharlachrotes Gesicht und ich erinnere mich, wie elend ich mich, angesichts meiner hilflosen und verzweifelten Mutter fühlte, selbst noch Kind, konnte ich nur zusehen und zu einem mir unbekannten etwas beten. Die Ärzte räumten ihm keine Zukunft ein, mag sein, es hat am zerrüttenden DDR-Gesundheitssystem gelegen, das sie nicht zur Hoffnung befähigte. Sie hielten es für aussichtslos. 4 Jahre, sagten sie zu meiner Mutter, maximal 5.


Aus den vier Jahren wurden mittlerweile fast 30. Mein Bruder atmet. Doch zwischen 4 und 30 Jahren kam es immer wieder zur Apnoe, nachts setzte der Atem, der doch so selbstverständlich scheint, einfach aus, er schaltete sich ab, mein Bruder musste eine Atemmaske tragen, jede Nacht wurde alles angeschnallt und fixiert, die Klettverschlüsse saßen straff und zeichneten ihn für den kommenden Tag, schwollen die Dellen ab, war es Zeit, die Maske erneut anzulegen, um den Atem, wenn er ausfiel, künstlich zu überbrücken. Mein Bruder atmet. Inzwischen atmet er allein. Wir dürfen getrost vergessen.


Dafür gibt es Märchen und Vergleiche. (Kerstin Preiwuß)


Meine Hausärztin sagt, es stehe jedem frei, keine Maske zu tragen oder die Maßnahmen nicht einzuhalten, insofern jeder den Tod eines anderen verantworten kann und will. Bitte sehr, sagt meine Hausärztin.


Meine Maske hat einen Gummizug und keine Klettverschlüsse, sie ist schwarz und verziert mit mexikanischen Totenköpfen. Día de los Muertos. Meine Freundin hat sie genäht. Es ist ein kleines Stück Stoff, das mich im Zug durchaus belästigt, mich beim Einkaufen fast um den Verstand bringt, dabei ist es weniger die Maske, vielmehr ist es die unerhörte Hitze, beides ergibt ein ätzendes Gemisch. Weinen fällt schwer aber Schwitzen geht. Es ist nur ein kleines Stück Stoff, das ich nicht jede Nacht, sondern erstaunlich selten tragen muss, weil ich niemandes Tod verantworten kann noch will. Es ist eine simple Risikoberechnung, ob die Maske nun viel oder wenig nützt, allein die Möglichkeit, dass sie schützt, zählt. So simple, so logisch und für manche so unglaublich unverständlich. Stoppt mein Niesiko, steht auf der Maske Nora Gomringers. So simple, so logisch!


Manchmal empfinde ich, die ich mich nur sehr ungern „öffentlich“, also unter Menschen bewege, die Maske als Entlastung, sie ist wie ein kleiner Schutzwall, der ein Stück Intimität wahrt, das ich weniger gern, als mir bisher bewusst war, preisgebe. Ist die Mimik des Gesichts zwar eine Form basaler Sprache, bleibt sie doch verräterisch. Mir genügen die Augen. Auch wird weniger gesprochen, bedachtsamer, hinter dem Stoff reduziert sich das Gesagte oft aufs Wesentliche. Die Worte werden sparsam und überlegter gesetzt. Sprache und Anstrengung geraten in ein Gleichgewicht.


Susan Sontag schreibt in ihrem Tagebuch: „Keine Maske ist ausschließlich Maske. Schriftsteller und Psychologen haben sich ausgiebig mit dem Gesicht-als-Maske befasst. Weniger gewürdigt: die Maske als Gesicht.“ Worauf sie anzuspielen scheint, ist, dass unser Gesicht, dessen Mimik wir gerne für die absolute Form wahrhaftigen Ausdruck halten wollen, längst die Überformung einer Maske angenommen hat: Es bedarf nicht einmal einer Operation oder fototechnischer Tricks, um künstlich zu lächeln. Der soziale Druck macht auch und erst recht vor dem Gesicht nicht halt, zugleich ist unser Gesicht ein Schauplatz großer Intimität, in gewisser Hinsicht also doppelt verräterisch. So ist es auch nicht in jeder Kultur üblich, es gänzlich und jedermann herzuzeigen, schließlich würden wir auch nicht jedem unser Tagebuch offenbaren. Das Gesicht, ist es nicht bereits in der sozialen Maske aufgegangen, macht besonders verwundbar und verletzlich, es spricht ohne uns und gerne darüber, was wir lieber für uns behalten wollen: Skepsis, Trauer, Zorn. Die ursprüngliche, die rituelle Maske, so legt Sontag nahe, gewährte hingegen dem Träger Schutz. Nach außen konnte er die Daseinsform beliebig wechseln, aber nach innen, hinter der Maske, blieb das Gesicht und somit der Ausdruck des Selbst geschützt und war für diesen Moment auch vom Anpassungsdruck befreit. Erstaunlich, was wir für selbstverständlich erachten und was nicht. Zwingt uns die Maske in eine unsolidarische anonyme Masse oder gibt sie uns vielleicht ein Stück Intimität zurück. Eine Intimität die längst nicht mehr selbstverständlich, geschweige Privatbesitz ist.


Vielleicht ist es gut, dass mein Mund, mir, meiner Familie, meinem Partner gehört, vielleicht ist es gut, dass er nicht ohne mich spricht, dass ich nicht lächeln muss, wenn Mann es von mir erwartet, dabei sind selbst meine Augen verräterisch genug.


Vielleicht wahren wir uns einfach ein Stück Intimität und wechseln die Daseinsformen von Maske zu Maske, wie es uns beliebt, während wir, wir selbst bleiben können. So gut es uns gelingt. Meine Freundin hat mir einen kleinen Schutzwall genäht, mit dem ich den Toten gedenken kann, ohne dass mir dabei jemand zusieht. Día de los Muertos.




Leben fackelt nicht lang.


(nh)