Normalität

Normalität von Dana Berg


»Als ich aufwachte, dachte ich: Ich bin nicht zu Hause. Ich bin hier.«
Susanna Clarke, Piranesi


Wir suchen Begriffe, anhand derer wir die Pandemie begreifen können. Wir entscheiden uns für Normalität 1. Nachts liege ich halbwach und denke mit geschlossenen Augen an Normalität. Ich denke an mein Badezimmerfenster. Von dort aus schaue ich auf einen Hinterhof. Fünf Häuser hegen ihn ein, in seiner Mitte steht ein prächtiger Ahorn. Ich wohne im vierten Stock. Schaue ich geradeaus, schaue ich auf ein Fenster gegenüber. Meist war es geschlossen, wenn Licht brannte, sah ich zwei Fremde an einem Tisch sitzen, sie tranken daran, saßen mit anderen Fremden zusammen.


Jeden Morgen stand ich auf, ging ins Badezimmer, putzte die Zähne, trat beim Putzen ans Fenster, schaute dabei auf den Hof, schaute auf das Fenster gegenüber. Manchmal sah ich die Fremden, manchmal nur den Tisch. Oft blieb es dunkel. Am Abend das Gleiche, das Putzen, das Schauen, es gehörte dazu, es beruhigte. Auf das Fenster gegenüber war Verlass 2.


Im Februar kam Bewegung hinter das Fenster. Der Tisch verschwand, das Mobiliar, das Licht auch, damit die Fremden. Einen Monat lang blieb das Zimmer leer. Dann, eines Morgens, ich putzte die Zähne, hing eine Jalousie hinter dem Fenster. Das Fenster war zu klein für die Jalousie, aufgefächert wie ein defektes Akkordeon lag sie auf dem Fensterbrett auf. Die Jalousie hing schief und unordentlich, sie anzuschauen, brachte meinen Blick in Unruhe. Zwischen Jalousie und Fensterscheibe war eine Stoffschildkröte gelegt, ein hässliches Vieh, wie es sie in 1-Euro-Läden gibt; die bernsteinfarbenen Augen groß wie verschmutzte Teller. Die Augen sollten das Kindchen-Schema bedienen, waren aber so überdimensioniert gestaltet, dass ihr Anblick nur noch grotesk und unheimlich erschien. Diese Augen starrten über den Hinterhof hinweg direkt zu mir.


Die schiefe Jalousie, die groteske Schildkröte – das war, was ich von nun an jeden Morgen und Abend bei meiner Badezimmerroutine sah. In den ersten Tagen war ich amüsiert darüber, fast dankbar für die Abwechslung. Ich stellte mir die Nachbarn vor, vermutete die Geschichten, die sich hinter der Jalousie abspielten, die zum Kauf des Stofftieres geführt hatten 3. Ich war gelassen, weil ich damit rechnete, dass die neuen Fremden sicher bald die Jalousie in Ordnung bringen und die Schildkröte aus dem Fenster nehmen würden.


Doch je mehr Zeit verging, desto klarer wurde: Das würde nicht geschehen. Bis die Nachbarn ausziehen würden, würde der Anblick so bleiben. Die schiefe Jalousie, die groteske Schildkröte – sie sind meine neue Realität 4.


Seither fühle ich mich hilflos 5. Ich lasse meinerseits die Jalousie herunter, um nicht nach draußen schauen zu müssen. Doch ich brauche den Blick ins Freie, sehe nicht ein, dass mir die Freiheit, dahin zu schauen, genommen werden soll. Außerdem fehlt Licht im Zimmer. Im Frühling blühte der Ahorn, Vögel 6 kamen und bauten Nester, im Herbst färbten sich die Blätter, jetzt im Winter liegt Schnee auf den Ästen. Es ist wunderschön. Warum soll ich mir dies verwehren? Ich habe meine Jalousie wieder hochgezogen. Ich versuche, auf den Hinterhof zu schauen und dabei den Blick auf das Schildkrötenfenster zu vermeiden. Doch es gelingt nicht. Gerade, weil ich nicht schauen will, schaue ich.


So liege ich und denke selbst in der Nacht daran. Ich will einen guten Text schreiben, er braucht ein Ende. Seit März sammele ich Steine. Jeden Tag einem Stein aufheben und in die Badewanne legen. Von meinem Fenster zum anderen Fenster sind es bestimmt vierzig Meter. Die Entfernung ist selbst mit einem guten Wurf nicht zu überbrücken.


Eines Tages werde ich werfen 7. In Gedanken schleudere ich die Steine, einen nach dem anderen. Einer wird die Fensterscheibe durchschlagen, der Schaden wird die Nachbarn zwingen, eine Reparatur vorzunehmen, Fenstermacher werden kommen, die Jalousie wird hochgezogen und die Schildkröte vom Fensterbrett genommen werden, die Fenstermacher werden ihr Werk verrichten. Wenn ich morgens aufstehe und meine Zähne putze, wird mein Blick auf ein anderes Fenster fallen, eine andere 8 neue Normalität.



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1. Normalität. Augenblicklich setzt ein Sträuben ein. Normalität ist ein Begriff, gegen den es zu rebellieren gilt, das habe ich spätestens seit Nach der verlorenen Zeit gelernt. Seither hat sich nichts daran geändert. Normalität ist ein Begriff aus dem Wörterbuch des Spießbürgers, ich lese es, um mich zu gruseln. Sperrig, gewöhnlich und moralisch liegt das Wort auf meiner Zunge. Wenn ich keinen Text schreiben sollte, würde ich nicht darüber nachdenken wollen.


2. Einige Tage später verstehe ich, was ich damit meine. Innerhalb der Analogie verstehe ich Normalität nicht als Schnittmenge der Wahrnehmung aller Beteiligter auf etwas. Stattdessen beziehe ich Normalität allein auf mich. Ich bin die Norm und nur diesen Mittelpunkt der Welt – also mich – verstehe ich als Schnittmenge alles Relevanten. In diesem Sinn begreife ich Normalität als Routine, als das, was mir immer geschieht. In der Analogie halte ich diese Routine für erstrebenswert. Ich möchte, dass »es« ist wie immer; das Aufstehen, das Putzen, das Schauen. Dieses immer habe ich mir im Laufe der Jahre so eingerichtet, dass ich damit gut über die Runden komme, auch die üblen. Dafür habe ich alles Unschöne nach Möglichkeit aus der Routine entfernt. Jede Abweichung von der Routine/Normalität ist eine unwillkommene Störung.


3. Tatsächlich machte ich es mir zur Aufgabe, jeden Morgen beim Zähneputzen eine neue Geschichte zur Herkunft der Schildkröte zu erfinden. Das Geschichtenerfinden wurde zu einer Art Routine, einer Normalität. Ohne Geschichte begann ein Tag »unnormal«.


4. Durch einen Gegner der Coronamaßnahmen stoße ich auf den Hinweis zu »Neue Normalität«. Der Begriff wurde 2018 von dem Politikwissenschaftler Paul Sailer-Wlasits eingeführt, um Populismusströmungen von u.a. Donald Trump zu beschreiben. »Neue Normalität«, wie sie der Philosoph Hans Martin Esser versteht, ist kein dauerhafter Ausnahmezustand, weil sich Normalität am statistischen Durchschnitt orientiert. Auf die Analogie bezogen wäre das Schildkrötenfenster die Normalität für das Jahr 2020, weil ich in diesem Jahr öfter darauf geschaut habe als nicht. Deutsche und österreichische Politiker haben den Begriff »Neue Realität« verwendet, um die Corona-Situation zu beschreiben und die Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen zu erläutern.


5. Einmal stand ich vor dem Klingelschild des Nachbarhauses und zählte auf der Namensleiste die Stockwerke ab. Ich weiß ihren Namen, aber ich drückte nicht den Klingelknopf.


6. Genau genommen nur Stadttauben, keine poetischen Singvögel.


7. Ich werfe nicht, denn ich ertrage das Verändern. Weil ich annehme: Für mein Durchhalten werde ich belohnt werden. Hier verlasse ich die sogenannte Analogie und beziehe mich auf das Ertragen der zahlreichen Veränderungen (Maske, Kontaktverbot, ständige Ungewissheit) während der Pandemie. Ich ertrage, weil ich nach der Pandemie einen Verdienst für meine Mühen erhalte: die alte Normalität. Oder, besser noch: eine neue Normalität, welche die alte qualitativ übertrifft. Die Normalität nach der Pandemie ist weniger eine persönliche, als vielmehr eine gesellschaftliche Vorstellung, eine Utopie: autofreie Innenstädte, verstetigte Pop-Up-Radwege, Digitalisierung der Schulen, weniger Flugverkehr, weniger Neoliberalismus, mehr Bezahlung der wirklich wichtigen Arbeitskräfte, mehr Entschleunigung, mehr selbstgebackenes Bananenbrot.


8. Ich sollte mir nicht so sicher sein. Die Normalität nach der »Neuen Normalität«, die neue »Neue Normalität«, existiert ebenfalls als Dystopie: weniger individuelle Freiheitsrechte, mehr Überwachung, mächtigere Konzerne, weniger kleine Buchläden, kaum noch Kinos, eine zerstörte Kulturlandschaft, mehr geschlossene Grenzen, eine gespaltenere Gesellschaft, eine globale Situation, aus der Autokratien gestärkter hervorgehen als Demokratien.


(sp)