Weihnachten

Weihnachten von Dana Berg


Wir sind eine weihnachtstrunkene Familie. Nicht, dass wir in Dekor versinken. Es gibt einen Weihnachtsbaum, Kerzen und eine Tischdecke, der man ihr biblisches Tischdeckenalter erstaunlicherweise nicht ansieht. Es gibt zwei Weihnachts-Sampler, die wir seit fast 30 Jahren im Wechsel hören. Obligatorisch ist auch der künstliche Streit, der zwischen mir und meinem Bruder jedes Jahr aufs Neue entbrennt, wenn ich die CD’s hervorkrame und zu Last Christmas von Wham! einstimme und er seinen Widerwillen demonstriert, wahrscheinlich diskutieren wir seit 20 Jahren, ob wir in neue Weihnachtsmusik investieren sollten, was niemals geschieht, niemals geschehen wird, weil es Rituale sind, die wir lieben.



Der Heilige Abend verläuft nach einem strengen Regelwerk, wir finden uns zum Kaffee ein und gehen, sobald Teller und Tassen im Geschirrspüler verstaut sind, spazieren. Ein Ritual, dass sich mit der Geburt meiner kleinen Schwester etablierte. Während wir spazierten, kam der Weihnachtsmann und tat, was er tun musste: Geschenke unter dem Weihnachtsbaum drapieren. Glaubt meine inzwischen zwanzigjährige Schwester schon lange nicht mehr an den Bärtigen in roter Kutte, halten wir doch am Spaziergang fest. Ein Spaziergang, der uns Station machen lässt, jedes Jahr klingeln wir in der Badegasse: Dort wohnte einst mein bester Freund, war auch ich als Kind zuhaus, jedes Jahr kehrt er mit seiner Familie zu seinen Eltern zurück. Dort wohnte einst auch der beste Freund meines kleinen Bruders. Der Bruder meines besten Freundes, war der beste Freund meines kleinen Bruders. Er hatte am 24.12. Geburtstag.



Er hatte, hatte, hatte und gewesen und damals und einst … als meine kleine Schwester noch an Weihnachtsmänner glaubte. Wir gehen also in die Badegasse, nach wie vor, aber etwas hat sich verändert, etwas stimmt nicht. Wir gehen schweigsamer, wir steuern automatisch, aber unbeholfen unser Ziel an. Wann immer die Tür sich nun öffnet, einer fehlt, und wir wissen mit der Fehlstelle noch nicht umzugehen, wir sind unbeholfen, wir können die Trauer, so scheint es, nicht ritualisieren. Aber wir spazieren, spazieren weiter, wir halten an unseren Ritualen fest, vielleicht sind sie das letzte, was uns in einer säkularisierten Welt Halt gibt. Einer Welt, die in hatte und gewesen und damals und einst und morgen zerfällt. Da die Söhne vor den Vätern sterben. Wir klingeln immer in der Badegasse.



Danach wird gewichtelt, es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich in unserer Familie kein Geld wünscht, nur in Krisenzeiten, was auch daran liegt, dass Geld schlecht zu verpacken ist und die Wichtelei dramatisch verkürzen würde. Deshalb packen wir gerne alles kleinteilig ein, damit das Wichteln, dass sich manchmal über Rekordzeiten von 2-3 Stunden zieht, nicht so schnell zu Ende ist. Alle sitzen an einem langen Tisch und es wird gewürfelt, wer eine 6 würfelt, bekommt ein Geschenk, dann halten alle inne und schauen dem oder der Beschenkten beim Auspacken zu, bevor weitergewürfelt wird. Ich kann kaum erraten, was uns glücklicher macht, der geglückte Wurf, das Geschenk oder die Freude, der man so selten angesichtig wird. Besitz wird einfach ausgewürfelt, so lernen wir, es ist eine Sache des Glücks. Später weinen wir im Kollektiv und lauschen den Dönchen der Oma, die schon wieder ein Glas Wein zu viel getrunken hat, so ist das eben, so geht das, jedes Jahr. Alles obligatorisch, die Tränen, der Wein, der Tod.



Nur einmal habe ich das Ritual gebrochen und Weihnachten in der Ferne verbracht. Den ganzen Tag saß ich vor dem Laptop und skypte mit meiner Familie, immer abwechselnd tauchte ein geliebtes Gesicht nach dem anderen auf dem Bildschirm auf und wir alle weinten, es war eine Heul-Suada. Während sich meine Familie beim Weinen abwechseln konnte, weinte ich die Stunden hindurch. Das war eine erste Zäsur, wir wussten, dass wir das Ritual nicht ewig aufrechterhalten konnten, das war es, worum wir weinten. Wir weinten im Voraus, weil wir bereits ahnten, dass dieses kleine stete Glück, dies bisschen idyllische Kontinuität, die uns blieb, nur von begrenzter Dauer und äußerst fragil, fast illusorisch ist.



Weihnachten ist ein Fest für Kinder, heißt es. Auch Kinder müssen irgendwann erwachsen werden.



Kurz darauf brachen die Unglücke herein und die Trauer saß plötzlich wieder am Tisch, die Trauer würfelte mit. Ihr Glück war unser Pech. Sie hatte uns geschont, so lange sie konnte, wir hatten Jahre genug, uns zu sammeln. Wir hatten uns der Trauer ein wenig entwöhnt. Die Erinnerungen sitzen am Tisch, die Erinnerungen haben Namen, sie sitzen am Tisch und würfeln mit.



Der Heilige Abend verläuft nach einem strengen Regelwerk, wir finden uns auf dem Friedhof ein, bevor wir Kaffee trinken, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Aus den Geburtstagswünschen wurden Grabbeigaben.



Doch es sind nicht nur die Toten, die nun ihren berechtigten Platz in der Tischordnung einfordern, es sind auch die Lebenden. Meine Eltern haben nun eine Enkelin, mein Bruder wurde Vater, seine Frau wurde Mutter und die Kontinuität zerbricht erneut, die Familie schrumpft und vergrößert sich zugleich. Nun geht es nicht um eine Familie, sondern um Familien, um Rechte um Pflichten, um Gerechtigkeit, Ansprüche und Wünsche. Nun wird aufgeteilt, werden Termine vergeben, nun ist klar, das nichts mehr sein kann, niemals mehr sein wird, wie es war. Dass wir neue Rituale finden müssen, kleine, bescheidenere, dass unser Modell einfach nicht mehr taugt, nicht zeitgenössisch ist. Und ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie froh ich bin, dass die Pandemie diese Umbrüche überschaudert, die für uns alle überfordernd sind. So fällt uns der Abschied ein wenig leichter, der nach 30 Jahren kein einfacher ist. Wir haben überdauert und vielleicht war es längst überfällig, wurden die Weihnachtsfeiern doch trauriger und trauriger, was sich kaum noch ignorieren ließ, fiel selbst der Protest meines Bruders gegen Wham! immer kleinlauter aus. Wir haben dieses Stück artig zu Ende gespielt, ein Stück, das sich jederzeit wiederholen lässt, wir verlieren nichts, nur ein wenig schlechte Musik, die Lektionen hingegen haben wir begriffen: Die Trauer war kurz davor, uns zu ritualisieren und Weihnachten ist nur ein Tag, an dem man das Glück kollektiv herausfordert, an dem man beieinander ist und die Rituale wiederholt, die längst zur Routine erstarrt sind, nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich ist nur der Baum, der plötzlich inmitten des Zimmers steht. Außergewöhnlich ist, dass wir gerne beieinander sind, auch wenn es nichts zu feiern gibt und meine Familie nicht nur aus Ritualen, Hohlformen und Gesten, sondern Liebe besteht.



Ich will nicht länger würfeln, solange der Tod mit uns am Tisch sitzt.
Ich will endlich erwachsen werden.


(nh)