(I) ich, das eigene Echo liebend
Ich bin nie auf den Balkon getreten und habe geklatscht. Da war Scham bei dem Gedanken, ich könnte der Einzige sein, der klatscht, und, die größere Furcht noch, ich würde mich einreihen in das Klatschen Anderer. Ich überlegte, ob mein Klatschen auf dem Balkon von jenen gehört werden würde, denen es gelten sollte. Müsste ich mich nicht, wenn ich konsequent sein wollte, vor die Supermarktkassen stellen, in die Arztpraxen, neben die Betten in den Pflegeheimen, müsste ich nicht dort klatschen? Würde ich auf dem Balkon nur von denen gehört werden, die wie ich sind? Würden wir uns einander bestätigen in unseren lauteren Absichten, uns klatschend vergewissern, dass wir gute Menschen sind, mitfühlend und sorgend? Wäre das der einzige Sinn unseres Klatschens? Jedenfalls – ich habe nie geklatscht.
(II) zeitliche Abfolge
Ich habe nachgesehen. Es war am 14. März 2020, als ich in meinem Tagebuch erstmals von Videos aus Italien schrieb, die zeigten, wie die im Lockdown festgesetzten Menschen von Balkons aus Musik machten; sie spielten Instrumente, sangen dazu, das Gefühl entstand, dem Schlimmen so etwas Gutes, etwas Entscheidendes abzutrotzen: ein Miteinander. Das Singen versprach Trost in der Krise, es machte Hoffnung, der Glaube wuchs, am Ende würden wir gestärkt aus der Krise hervorgehen können.
Am 15. März, einen Tag später schon, schrieb ich von den ersten Parodien auf das Singen und damit die Hoffnung. Am 22. März – eine Woche lang hatte ich auf ein Balkonsingen in der Nachbarschaft gelauert – geschah es endlich: Jemand spielte Careless Whisper auf dem Saxophon. Niemand filmte. Ich war beruhigt. Ein Miteinander gab es auch hier.
Danach wurde geklatscht. Man klatschte für die, die nicht in den Lockdown gehen konnten, die gezwungen waren, draußen zu sein, in einer Zeit der Maskenknappheit und ohne Plexiglassscheiben, der Ungewissheit, ob das Virus nicht vier Tage an einer Türklinke überdauern konnte. Wer klatschte, klatschte für die Ärztinnen, Krankenschwestern, Pflegerinnen und Supermarktverkäuferinnen. Am 28. März schrieb ich ins Tagebuch: »Euren Applaus könnt ihr euch sonstwohin stecken«. Es war das Zitat einer Krankenschwester, die den Alltag im Krankenhaus beschrieb, den ökonomischen Druck, die Unterbesetzung, das Schichtsystem. Der erste wirkliche Pandemiemonat war noch nicht vorbei und das gerade erst als Symbol der Krise etablierte Klatschen auf den Balkonen hatte sich schon gewandelt zu: einer kritikwürdigen, einer hohlen Geste.
(III) hohle Geste, Beispiel 1
Im Juni 2020 pflanzt der Staatssekretär in Rheinland-Pfalz einen Lavendelstrauch in den Garten der Uni-Klinik Mainz. Es ist seine Art, sich für den Einsatz der Medizinerinnen zu bedanken. Der Staatssekretär, der in der Position wäre, Dinge besser zu machen für das Klinikum, pflanzt einen Strauch. Der Strauch ist eigentlich ganz hübsch, aber auch klein, schmal, kläglich und mickrig, ein jämmerlicher Lavendelstrauch als ein symbolischer Akt, das Symbol nun für etwas anderes stehend, als vom Staatssekretär beabsichtigt.
(IIIa) hohle Geste, Beispiel 2
Es gibt eine große Zahl schrecklicher, herzzerreißender, kaum auszuhaltender Videos aus der Pandemie. Ein Video, das mich bei jedem Schauen (ich habe es Dutzende Male gesehen) glücklich macht, zeigt Boris Becker, der im Trainingsanzug auf dem Balkon seiner Londoner Wohnung steht. Es ist ein Hochhaus an der Themse, von oben blickt Becker auf die Skyline der teuren Stadt. Im Abendrot steht er dort und klatscht für jene in den prekären Jobs, er klatscht für die Krankenschwestern und LKW-Fahrerinnen, ein Klatschen über das Wasser hinweg, hin zu den anderen Hochhäusern der teuren Stadt, so hoch steht Becker, dass sich sein Klatschen im Wind verliert, bevor es den Boden erreicht, Beckers Klatschen bleibt ungehört und damit unbeantwortet.
Becker ist das nicht bewusst. Selbstvergessen und überzeugt klatscht er. Becker steht auf dem Balkon seines Millionenappartements und nimmt klatschend Anteil am Schicksal Anderer, er teilt diese Solidarität auf seinem Instagram, Boris Becker blauer Haken schreibt dazu: »Clap for our Carers«, 82000 mal ist das Video vom mitfühlenden Becker aufgerufen.
(IV) Greenwashing
Greenwashing meint, sich ein grünes Mäntelchen umhängen. Firmen unterstützen soziales, kulturelles oder klimafreundliches Engagement und erwarten als Gegenleistung dafür einen Imagegewinn. Krombacher rettet mit Biertrinken den Regenwald, der Milliardär Klaus-Michael Kühne vergibt den Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt, McDonalds färbt sein rotes Logo grün.
So wie das Engagement Firmen schmückt, schmückt in der Pandemie das Klatschen die Klatschenden.
(V) was es über Klatschen auf dem Balkon zu sagen gibt
Wer zum Klatschen auf den Balkon treten will, muss erst einmal einen Balkon haben. Oder eine Wohnung.
(VI) was es über Klatschen auf dem Balkon noch zu sagen gibt
Das Klatschen als selbstlose Geste, das Klatschen als hohle Geste. Hohl, weil Klatschen nichts kostet: ein Tritt auf den Balkon, die Hände gegeneinander. Dem Klatschen folgt nichts. Die Krankenschwestern bekommen ein paar Masken zugeteilt und ein paar Stunden auf die Schicht aufgebrummt. Manchmal schicken die verantwortlichen Stellen Konfekt.
(VII) Wer hat für die Schlachthofarbeiterinnen geklatscht?
Als es im Sommer 2020 tausende Infektionen in Schlachthäusern gab, wurde der Wille bekundet, etwas an den Zuständen dort zu ändern. Ein halbes Jahr später fordert die CDU, mit freundlicher Unterstützung des Verbands der Fleischwirtschaft, bei der Beratung über das Arbeitsschutzkontrollgesetz: Ein flexibler Umgang mit Arbeitsspitzen müsse weiter möglich sein.
(VIII) Krise als Chance
Ein mitfühlender neoliberaler Kalenderspruch geht so: Krise als Chance. In der Pandemie gibt es diese Chance für die, die es sich leisten können. Die, die es sich leisten können sollten, für die bleibt: das Klatschen der Anderen.
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Lavendelstrauch
Boris Becker klatscht
Arbeitsspitzen flexibel abfedern
(sp)