Lockdown

Lockdown von Dana Berg


Einen Lockdown kannte ich von Filmen. Ein Countdown zählte runter, schwere Metalltüren rauschten hinab, ein Kreischen von Alarmtönen, rote Leuchten drehten sich. Die bedrohten Helden versuchten, den sich schließenden Türen zu entkommen oder sich dahinter vor einer Gefahr in Sicherheit zu bringen. Es gelang, immer in letzter Sekunde gelang es, stets wurde ein Bein gerade noch eben unter der dem Metall hervorgezogen. Der Lockdown, den ich kannte, er war atemlos, er war knapp und aufwühlend, er strengte die Sinne an, ich zitterte vor Anspannung, wenn ich ihm folgte.


Mein Lockdown geschieht anders. Er wird angekündigt. Während einer unaufgeregten Pressekonferenz, die jede Form von Panikmache zu vermeiden versucht, werden sachlich Informationen gegeben. Ein Zeitpunkt für den Beginn des Lockdowns wird genannt, die Ankündigung lässt ausreichend Zeit zur Vorbereitung. Der Lockdown überrumpelt mich nicht, er zwingt mich nicht, in Sekunden Entscheidungen zu treffen.


Mein Lockdown, denke ich vor dem Lockdown, wird das Drinnen sein. Das Drinnen ist mir vertraut. Ich habe mir mein Drinnen über Jahre hinweg eingerichtet, so, wie ich es gernhabe. Drinnen ist keine Neuigkeit. Nur die Anzahl der Konservendosen ist größer als in gewöhnlichen Zeiten.


Die Neuigkeit beim Lockdown ist das Draußen. Was dort ist, wird weniger. Das Draußen verändert sich, weil es sich entleert; die Zahl der Passanten in den Straßen, die fahrenden Autos, die fehlende Enge in den öffentlichen Räumen. Leer ist die Natur, die ich in diesem beginnenden Frühling täglich aufsuche, der Wald, die Wiese, stille Flecken am Ufer. Dort, wo ich sonst selten war, zieht es mich nun hin; Plätze, an denen ich Grün gegen Raufasertapetenweiß tauschen kann, Plätze, an denen ich keine Menschen vermute. Dabei sind die Menschen nirgends. Wir alle sind drinnen und wenn wir nach draußen gehen, meiden wir uns. Wir verschwinden voreinander.


Ich bin draußen, ich bin drinnen, beides ist mein Lockdown. Ich verspüre das Bedürfnis, meine Eindrücke zu teilen. Andere verspüren das auch. So erfahre ich von ihren Lockdowns. Und verstehe schnell: Mein Lockdown ist anders. Der Lockdown von Eltern ist anders als der von Alleinstehenden. Der Lockdown von bei ihren Eltern lebenden Teenagern anders als bei alten Paaren. Der von zuhause aus zu unterrichtenden Schulkindern anders als der von zuhause aus arbeitenden Steuerrechtlerinnen. Der Lockdown von Gesunden ist anders als der mit Kranken zuhause. Der Lockdown mit angrenzendem Garten anders als im Neubaublock. Der Lockdown mit netten Nachbarn, die eine Supermarktkiste vor die Wohnungstür stellen, ist anders als im Einfamilienhaus. Der Lockdown im Dorf, wo in der Kühltruhe eine Dreizentnersau liegt, ist anders als in der Stadt, wo Hefemangel herrscht. Mein Lockdown in Deutschland ist verschieden vom Lockdown in Italien, anders als der Lockdown in Spanien, wo die Geschützten erst nach sieben Wochen Drinnen wieder mit ihren Kindern für eine Stunde am Tag ins Draußen zum Spazierengehen dürfen.


Jeder dieser Lockdowns ist gestaltet von Umständen. Auf manche habe ich Einfluss, auf andere nicht. Ich habe keinen Einfluss darauf, dass in meinem Land weder ein Spaziergang noch das Lesen eines Buches auf einer Parkbank untersagt ist. Keinen Einfluss darauf, dass ich alt bin, Kind bin, Teenager.


Doch alle, die im Lockdown sind, verwenden das Wort. LOCKDOWN. Wir, die wir darüber sprechen, müssen annehmen, wir sprächen über dasselbe. Deshalb muss es Dinge geben, auf die wir uns einigen können – Supermarkterlebnisse, Maske tragen, die Ansprache der Kanzlerin, Es ist ernst.


Damit enden die Gemeinsamkeiten. Die Lockdowns entfernen sich voneinander. Sie treiben fort, die Erfahrungen werden verschieden, die Anekdoten, von denen zu berichten ist, werden von anders gefärbten Stimmen erzählt. Und weiter noch: So, wie alles Geschehene im Erinnern erst seine endgültige Form erhält, entsteht ein halbes Jahr nach dem Lockdown ein Bild davon, reduziert auf einige grundsätzliche Worte – stressig, Entschleunigung, beklemmend, existenziell, einsam, produktiv – und einige sinnliche Empfindungen, die seltsamerweise die Zeit überdauern.


Ich erinnere mich nicht an die vielen Tage und deren Vergehen. Aber ich habe den Singvogel im Ohr, dessen Tschilpen lauter als sonst am Morgen klang. Ich höre die Stimmen auf der Straße, die ansonsten aufgrund des Stadtverkehrs durch die Fenster nicht zu hören waren. Weil ich diesmal im Frühling schon auf dem Balkon saß, sehe ich den Tau auf den Basilikumblättern. Ich spüre die Härchen der Zucchini, die die Nachbarin mir vor die Tür legte. Wenn ich heute A Day In The Life höre, höre ich es so, wie ich es während des Lockdowns besonders oft hörte.


Die Erinnerung sagt mir: Ich habe einen Lockdown überstanden. Und zugleich warnt eine Stimme: Es war nicht schlimm. Nicht so wie in den unbesuchten Altenheimen, nicht wie in Spanien, sieben Wochen ohne Draußensein. Ich kann diese Lockdowns nicht mit meinem Lockdown vergleichen. Ich tue es dennoch, es geht nicht anders.


Es ist mein Empfinden, sind meine Sorgen und Beklemmungen, die ich auf eine Stufe setze mit dem Rentner aus Gera, der wegen des Lockdowns nicht seine demente Frau in der Pflegeeinrichtung besuchen darf. Mein Kopf weiß, dass ein solches Gleichsetzen nicht möglich ist. Aber das Fühlen behauptet: Ich war im Lockdown.


Mein Lockdown, der andere Lockdown. Ein Wort für unterschiedliche Zustände. Das Wort wie ein Hämmern, das metallene Geräusch, wie eine Tür, die zu Boden rauscht und mich dramatisch einsperrt, aussperrt vom Rest der Welt. Lockdown, ein Wort der Bedrohung, ein Kampfwort. In der Erinnerung kracht es in meinen Ohren.


(sp)