„Ich weiß“, schreibt Jan Philipp Reemstma, „wie sehr eine Uhr hilft. Man teilt den Tag ein und damit das Problem, vor dem man steht und das in nichts weiter besteht als in der bevorstehenden Zeit. Man portioniert. Von … bis …mache ich dies, dann das. Man kann seine Kräfte konzentrieren und Stunde um Stunde bewältigen. Ohne Uhr treibt man wie in einem Meer von Zeit, ohne ein Ufer zu sehen. Nein, schlimmer, wie in einem Bottich, dessen Ränder zu hoch sind und keinen Halt geben. Man wird schwimmen, solange die Kräfte reichen, und weiß doch, daß man nirgendwo hinkommt und irgendwann untergehen wird.“
Ich bin nicht entführt, werde nicht gefangen gehalten, ich habe eine Uhr, aber meine Tage sind nicht mehr portionierbar. Eine Kugel Zeit, bitte.
Meine künstlichen Zeiteinheiten sind mit der Wirklichkeit nicht mehr in Einklang zu bringen, meine Zeit hält nicht Schritt. Die Zeit wird zudem, was sie immer schon war, eine abstrakte Größe, etwas, das zwischen gestern, heute und morgen vergeht und seltsame divergierende Rhythmen, Dissonanzen ausbildet.
Während außerhalb meines Bottichs alles erlahmt, die Städte schließen, das Leben verebbt, tobt innerhalb ein Orkan. Es fällt schwer weiterzuschwimmen. Ich fühle mich offen, gar semipermiable und kämpfe gegen die lästige Untergeherei, ein Ertrinken, das ich nur unzureichend benennen kann, ein Ertrinken an Welt. Ich habe keine Angst. Ich sorge mich, ich sorge mich um meine Liebsten, sorge mich um meinen Mann, der alles verlieren kann und für den die Zeit eine scharfe Zäsur ist, die ein Leben zerteilt, willkürlich in ein Davor und Danach, der sich im Warten üben muss, während er ausgerechnet 50 wird und nicht einmal auf Godot hoffen darf, für den das Warten so selbstverständlich, zu einem neuen Lebensentwurf wird; ein Warten, das uns beide umschließt, während wir uns verpuppen und die Geburtstagspläne streichen. Nur still soll es sein. Ich habe Angst und nenne es Sorge, der Unterschied scheint mir inzwischen unerheblich.
Zeit ist Geld, sagt der Volksmund. Diese Rechnung ist nun aufgekündigt, was unterm Strich bleibt ist Zeit, die unnütz, kaum zu verwerten ist, die man leider nicht horten kann, für eine andere Zeit, ein Danach, da das Denken nicht länger von Sorgen blockiert ist, die oft zu abstrakt sind, um begriffen werden zu können und doch täglich, beharrlich darauf drängen, sich immer wieder in Erinnerung bringen wie ein quengeliges Kind. Ich sorge mich, ob ich meine Sorgen gerecht genug verteile und wünsche zugleich, dass die Sorgen sich verausgaben, sich selbst entsorgen, denn unterm Strich, sind all die Sorgen umsonst, ich kann nichts daran ändern, niemand kann das, nur die Zeit, die über uns hinwegstreicht oder uns durchstreicht, das erzählen mir die Namen aus den Todesanzeigen, die einfach verklingen.
Die Tage fliehen regelrecht, sie tauchen kurz auf und verschwinden in der Nacht. Zurück bleiben Schemen, zurück bleibt ein diffuses Gefühl: vielleicht ist es rieselnder Sand in einem Teilchenbeschleuniger. Vielleicht ist dies nur eine unzureichende, weil schlampige Metapher.
Danach, danach, sagen wir nun im Chor, dabei weiß niemand, wann dieses Danach ist, wie dieses Danach überhaupt aussehen soll, denn auch unsere Vorstellungsgabe ist blockiert.
„Man stellt sich einfach zu viel vor, wenn man wenig erlebt. Und doch ist es gut, wenig zu erleben.“ Ich möchte nun gerne meine Tage damit verbringen, wie Klaus-Johannes Thies aus dem Fenster zu blicken, von ihm kann ich viel lernen, aber ich bringe nur die nötige Zeit, nicht aber die nötige Geduld auf. Und wen beobachtet man, wenn niemand auf der Straße ist. Klaus würde sagen, alles ist erheblich. Guck hin Mädchen! Aber vor meinem Fenster, sage ich, parkt kein Opel Kapitän, sondern nur ein grauer Skoda, ich lebe in der ostdeutschen Provinz. Ich ziehe die Vorhänge zu, inzwischen muss Winter in Deutschland sein. Die Provinz ergraut, wie die Zeit, die an ihr frisst.
„You have to lose your sense of time.“ Sagen die Entführer zu J.P. Reemtsma, als dieser um die Rückgabe seiner Uhr und somit um die Rückgabe von Welt bittet. „Er werde morgen seine Uhr zurück bekommen (sagten die Entführer) … but it won’t help you much.“
Ich darf mein Zeitgefühl nicht verlieren, ich brauche Routinen, selbst, wenn sie unerfüllt bleiben. Ich stehe pünktlich um sieben auf, ich kapituliere pünktlich 07.30 Uhr vor den angestauten Nachrichten. Ich darf mein Zeitgefühl nicht verlieren. but it won’t help you much. Welches Zeitgefühl, wenn die Zeit aufgehoben ist, sich teilt in ein konkretes Davor und in ein sehr abstraktes Danach. Wenn man nichts erlebt, aber vor lauter Erleben fast um den Verstand gebracht wird. It won’t help you much.
„Ich dachte mal wieder ans Sterben, an den Tod, was ein Hobby von mir ist.“ Ich teile dieses Hobby mit Klaus-Johannes Thies, schon von Berufung wegen und weil mir alle anderen Hobbys zu anstrengend sind. Während mich die Zeit einstreicht, wandeln auch die Sorgen, tatsächlich sie sorgen sich aus und ich kann mir wieder genug, kann mir etwas vorstellen, wenn auch nicht viel. Ich stelle mir vor, wie begrenzt meine kleine Zeit doch ist, wie dumm dieser ganze protestantische Arbeitsethos ist, dem ich ein Gutteil meines manischen Leerlaufs zu verdanken habe: Man will noch ackern, selbst, wenn es nichts zu ackern gibt, die Schollen von jemand anderem bestellt oder längst zerstört sind. Es macht keinen Unterschied. Ich dachte mal wieder ans Sterben und dachte mir auch, all meine Sorgen sind unerheblich. Ich fühle mich offen, gar semipermiable, ich werde mutig und denke, die Zeit verstreicht auch ohne mich, aber solange ich ihr dabei zusehen kann, will ich ruhig am Fenster stehen, geduldig genug, mir alle Ängste auszutreiben, die so unerheblich sind, wie die Frage, ob es mich je gegeben hat oder nicht. Unerheblich, nur nicht für mich. Ich möchte angstfrei leben, ein ganz schlichter Wunsch, nicht davor oder danach, sondern jetzt, während der Winter schon zum Frühling ansetzt. Wer weiß, woran wir uns erinnern werden, vielleicht an rieselnden Sand in einem Teilchenbeschleuniger. Ich will mich daran erinnern, wie ich mal wieder ans Sterben denken wollte und stattdessen dachte: Nicht jetzt.
(nh)