Mein Großvater hatte sich unter dem Dach eine kleine Werkstatt eingerichtet: ein schmales, länglich angelegtes Kämmerchen mit schrägen, niedrigen Wänden, ein Fenster verlieh dem Kleinstadtwolkenhimmel eine kreisrunde Form. Jeden Zentimeter Platz hatte mein Großvater weise und praktisch genutzt: Schrauben und Nägel lagerten mit einem Handgriff zugänglich geordnet in Schubfächern, am Dachgebälk hingen Feilen, Bohraufsätze und Zangen wie dienliche Stalaktiten, Sandpapier, Holzplatten und Latten in verschiedenen Größen und Dicken warteten, verwahrt in Hohlräumen, auf ihre Verwendung. Das Kämmerchen meines Großvaters war wie die bodenlose Schatztruhe eines Zauberers: die ganze Welt ließ sich daraus hervorholen.
Hier baute mein Großvater, was zu DDR-Zeiten knapp war. Besonders beliebt waren seine handgefertigten Kaufmannsläden und Puppenstuben. Dafür kamen die Leute aus den umliegenden Städten und Dörfern, sie gaben Geld, sie tauschten ein. Nach der Schicht – er war Laborant in den Eisenwerken – ging er hoch in seine Werkstatt und sägte, schnitt zu, schmiergelte, nagelte, lackierte, bohrte, strich und leimte. Später baute er Vogelhäuser und noch später, als ihm das Treppensteigen und auch das Leben schwerer fielen, ließ er die Kammer für sich. Die Hobel, das Holz und die Farbdosen verstaubten, der Zauberkasten hatte sich geschlossen.
Ich habe mich nie fürs Handwerken interessiert. Lange waren meine einzigen Werkzeuge Hammer und Schraubenzieher gewesen. Ich hatte für das Herstellen von Dingen, das Bearbeiten von Material, das Neuerschaffen aus etwas, das sich mit Händen greifen ließ, keine Ader.
Über viele Jahre hinweg schenkte mir mein Großvater zu jedem Weihnachten zwei Bände von Karl May aus der fein gestalteten Radebeul-Edition. Karl May war der Autor seiner Jugend gewesen. Ich las Winnetou I und Unter Geiern jeweils nur zur Hälfte, den Rest der Bände stellte ich ungelesen ins Regal, die grünen, mit goldenen Ornamenten verzierten Buchrücken ergaben ein viel zu exquisites Bild in meinem Jugendschrank. Als ich meinem Großvater vor einem Weihnachten sagte, dass ich keine weiteren Karl-May-Bände mehr geschenkt haben wolle und er nach dem Grund fragte und ich vom Nichtlesen erzählte, da brach es uns beiden das Herz. Von da an notierte ich die Bücher, die ich mir wünschte, meine Eltern bestellten sie, meine Großmutter verpackte sie und legte eine von beiden unterschriebene Karte bei.
Im Jahr vor Fukushima wollte ich keine selbstgewählten Bücher geschenkt bekommen. Ich war umgezogen, es hatte sich Arbeit ergeben und ich hatte gemerkt, dass ich mit Hammer und Schraubenzieher allein an Grenzen stieß. Deshalb wünschte ich mir einen Werkzeugkasten; ein Grundset an Gerätschaften, mit dem sich das Notwendige reparieren ließ. Solche Sets gibt es in allen Baumärkten, sie liegen bei der Kasse, sie kosten kein Vermögen, sie sind Standard.
Mein Großvater schenkte mir in diesem Jahr keines dieser Sets. Er hatte einen leeren Werkzeugkasten gekauft und ihn mit Werkzeug aus seiner Dachkammer bestückt. Es waren alte Geräte, ölig, schrammig, rostig, mit großen Zahnrädern versehen, grobe Feilen, wuchtige Keile, Apparate, die ich noch nie gesehen hatte. Mein Großvater nahm jedes Werkzeug, jedes Geschenk in die Hand und erklärte mir, wie es zu gebrauchen war und als wir alles betrachtet hatten, saßen wir einen Moment stumm. Ich glaube mich zu erinnern, dass wir beide in diesem Moment schluckten, die gewesenen Jahre und die, die noch kommen sollten, lagen in diesem Moment und mein Großvater und ich waren zugleich in einer Zeit, an einem Ort, hatte dabei den Geruch von Öl und Eisenspänen in den Nasen.
Wenn ich an meinen Großvater denke, denke ich irgendwann immer daran, wie wir beide zusammen auf dem Sofa saßen und seine alten Werkzeuge betrachteten. Dieser Moment bedeutet mir mehr als Lukas 2,1-20 und das monumentale Orgelintro von O du fröhliche, mehr als Drei Haselnüsse für Aschenbrödel und mehr als Familie Hoppenstedt, mehr als die Homecoming-Treffen mit den Updates unserer Curriculum Vitaes, mehr als die ausgestochenen Plätzchen, die gelungenen Rouladen und symmetrisch aufgehängten Weihnachtskugeln, mehr als jeder Schnee und jedes routinierte Beklagen des Ausbleibens von Schnee.
In diesem Jahr werden viele Anstrengungen unternommen, damit Weihnachten gefeiert werden kann. Die Kultur wird monatelang ausgesetzt und die Gaststätten werden geschlossen, damit am 24. Dezember das Weihnachtsfest stattfindet. Mir erscheint diese Fixierung auf wenige glückliche Tage befremdlich. Ich verstehe, dass es ein Symbol fürs Durchhalten braucht. Aber was nützt es, denke ich, wenn das Symbol das Durchhalten verlängert?
Ich verstehe, weshalb es gerade dieses Symbol benötigt, dieses Ritual als Ziel der Anstrengungen, als Belohnung für die Entbehrungen. Ich verstehe, dass es ein Abwägen gibt, ein Zaudern und Zögern. Ein coronasicheres Weihnachtsfest schließt mögliche Erinnerungen aus. Momente werden so nicht stattfinden können. Das ist der Preis: die nie gewesenen Momente, ich nehme an, sie hätten bedeutsam und besonders sein können.
Was, wenn ich diesen einen Moment mit meinem Großvater auf dem Sofa eintauschen sollte gegen ein Weihnachten, das alle, die auf diesem Sofa sitzen, vor dem Virus schützen würde? Was würde ich tun?
Ich kenne die Antwort. Die andere Antwort kenne ich ebenso.
(sp)