(Warnhinweis: Achtung, Überlänge!)
Bevor ich, bevor wir überhaupt in der Lage waren, diese, unsere Lage zu begreifen, wurde nicht nur eine Debatte über Literatur in solch Lage angestoßen, sondern zugleich ein Genre erfunden, das wohl als erstes Genre (in der langen Genregeschichte), bereits während der Erfindung wieder Entfunden, vulgo beerdigt wurde: Das Coronatagebuch. Wobei die selben Feuilletons, die diese Gattung hinab ins Sudelreich beschworen und die Literat*innen beinahe flehentlich um Besonnenheit baten, sich wiederum generös verausgabten, sich Hausautor*innen einluden, die eben diese Gattung aufs Freundlichste bedienten, wie in guten alten Zeiten: Heia, der Fortsetzungsroman ist wieder da.
Bevor ich, bevor wir überhaupt in der Lage waren, diese, unsere Lage zu begreifen, hatte ein Freund bereits damit begonnen, mit dem Verschriftlichen, Notieren, Reflektieren: Coronamonate. Ich fand den Blog zufällig, in einem Postskriptum eines Vereins erwähnt (ein beredetes Zeugnis meiner eindimensionalen Internet-Nutzung). Ich las zu Beginn aus freundschaftlichem, ästhetischem, debattösem Interesse, kurz darauf las ich, weil es, weil er mir half, meine, unsere Lage zu begreifen, vielmehr zu verstehen, nein, zu empfinden. Ich kann Fakten und Informationen zwar weitestgehend geistig erfassen, aber sie bleiben mir nur dies: Fakten und Informationen. Ich benötige eine emotionale Anverwandlung, eine Anklangsmaschine, ich brauche Literatur, um mir die Welt zu übersetzen, um das (Be-)Greifbare zu verstehen. Dieses Tagebuch war / ist meine Anklangsmaschine. Die Unsicherheit, die Verlegenheit, das destabilisierte Welt-Verhältnis, das sich zögerlich – Tag um Tag, Wort für Wort – ausformulierte, in der Sprache meines Freundes, schien mir einzig angemessen. In seinen Worten waren meine Sorgen, meine Fragen, was immer mich umtrieb, aufgehoben und bereits mit Sinn erfüllt, nämlich angefüllt. Aus sinnlosen (also unsinnlichen) Fakten wurde eine sinnvolle (sinnliche) Erzählung, eine, die mich durch diese Tage trug und weiterhin trägt. Meine grundlegende Empfindung ist Dankbarkeit, dass da einer sitzt, seinen Tag opfert, um mir und anderen durch den nächsten Tag zu helfen. Das ist, nun will ich mich bewusst versteigen, praktizierte Nächstenliebe. Eine Tugend, die man der Literatur nicht unumwunden unterstellen sollte.
Das müsste genügen, die Debatte zu entkräften. Das genügt keineswegs, weil diese Debatte ein ausgemachter Blödsinn ist, nur weiß frau bei so einem ausgemachten Blödsinn kaum, wo frau zuerst ansetzen soll – bei blöd oder Sinn. Blöd ist diese Debatte, weil sie das Wesentliche unterschlägt, übergeht, ignoriert und nivelliert. Nicht alle, die ihre Schrift professionell stellen, sind anheischig, marktnormiert oder Erfüllungsgehilf*innen von merkantilen Programmvorstellungen. Vielleicht, so will ich es mir zumindest wünschen, sind es die Wenigsten. Viele schreiben dicht an der Gegenwart, es ist jene „Metaphysik des Alltäglichen“, die sich seit Brinkmann und Fauser (wir könnten auch weitaus früher ansetzen, z.B. bei Joyce) nicht nur in der Literatur etablierte, sondern spätestens seit den 80er Jahren der eingeforderte ästhetische Standard waren.
Nein, keine Coronatagebücher, heißt es, aber Rainald Goetz soll sich doch bitte mal zur Lage der Nation melden. Das nennt der Duden bigott und ich mache es dem Duden nach, sage zuvor aber höflich: Danke, Rainald. Gut gemacht.
Wer Coronatagebücher schreibt, so er / sie nicht eingeladen wurde vom Feuilleton, schreibt nicht über Corona, sondern über die eigene Realität, die, was für ein unglaublicher Zufall, von Corona gerade bestimmt wird. Corona ist unsere Realität. So einfach und unterkomplex, zu unterkomplex sogar fürs Feuilleton, diesem Leitmedium komplexer Gedankenführung. Nicht zu unterschlagen sei, dass in den ersten Monaten die meisten Kolleg*innen von einer existentiellen Sprach- und Schreiblosigkeit berichten, einer andauernden Überforderung, später von einer maßlosen Erschöpfung und während sie noch versucht waren, sich in diesem Leben einzurichten, ihre Existenzen irgendwie abzusichern, ihre Sprache zu sammeln, sich zu sammeln, wird ihnen flugs die eigene Gegenwart als verbrannte Erde entzogen. Ganz abgesehen davon, dass wir schlicht keine Rolle mehr spielen, dieses „winzige Marktsegment“ (Helmut Böttiger) findet kaum noch Betrachtung (Beachtung?), maximal tritt der Buchhandel auf, wessen Bücher dort verkauft werden, scheint unerheblich.
Freilich, für uns hat sich nichts verändert, wir, weltabgewandte Eigenbrötler*innen, die wir nun einmal sind, sitzen in unserer gegenwartsisolierten Klause, tippen fröhlich vor uns hin und ernähren uns von Luft und Liebe, unsere Vermieter*innen sind Mäzenat*innen, die noch wissen, wie man lässig und mit gebotenem Understatement einen Hermelin oder eine Fuchsstola (Echtpelz, versteht sich) um die Schultern trägt und die bevorzugt Dinge sagen wie: Lassen’s mal stecken, das geht sich scho aus, schreibens lieber ein schönes Gedichtl, gell. So in etwa.
Wenn es sich einmal nicht ausgeht, eilt Vater-Mutter-Staat mit Sonderstipendien zu Hilfe (dagegen ist nichts einzuwenden, liebe Subventionsfeinde schreibender Zunft, denn die ärmsten Geschwister ohne Not zu kränken, ist unstatthaft). Gerne würden wir uns bedanken bei Vater-Mutter-Staat, schlösse so ein Hilfsprogramm nicht sogleich alle Nebentätigkeitserwerber*innen freundlich aus und somit wahrscheinlich knapp 2/3 der Anwärterschaft, die Almosen werden also an jene verteilt, die keine benötigen oder an jene, die sich gerade entschließen Schriftsteller*innen zu werden, weil die Lage denkbar günstig ist. Viel Glück, meine Freunde!
Dabei wird großzügig übersehen, dass wir unsere Leistungen bereits artig erbracht, also erschrieben haben, was bedeutet, dass wir (je nach Geistes- oder Fingerfertigkeit) bereits eins, zwei, drei unserer statistisch durchaus limitierten Lebens-Jährchen in ein Buch investiert haben, das uns, sobald es denn erscheint, in gewisser Weise für viele (nicht nur finanzielle) Entbehrungen entlohnen soll, durch Lesungen bspw. Die Stipendien sind insofern nur bedingt eine Ausfall- oder Überbrückungshilfe. Es ist ein neuer Auftrag, nach dem Auftrag. Wir versuchen also verzweifelt, jene Einbußen die durch unsere eins, zwei, drei Arbeitsjahre entstanden, durch erneute und unterbezahlte Arbeit wettzumachen. Hämisch reiben sich die Feuilletonist*innen bereits die schweißnassen Patschehändchen, da diese Stipendien zumeist thematisch gebunden sind und dreimal darf geraten werden, wobei zweimal sicher genügt.
Ach so, das Arbeitsamt ist auch noch da, danke, ja, ja, liebes Amt. Autor muss ins Amp. Er hat die Kummermütze aus grauen Haaren auf. Er hat kein Geld mehr und geht los Geld holen, könnte man frei nach Ulrich Bogislav dichten (Lesetipp: “In Abeitamp”, zu finden in “Wo ich bin ist hinten”).
„Ich hab aber schon einen Beruf“, ruft Antje Herden dem Amt entgegen. Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Danke, Antje!
Ja, ja, das ist nichts Neues und vielleicht ist es unser größtes Glück, dass wir die instabilen Lagen gewöhnt und immer nah am Dauerpräkariat herumschweben. Schweben wir also noch eine Weile.
Und nun höre ich es schon wieder schnaufen, es ist ein Fünfziger-Jahre-Schnaufen, ein muffiges, ein konservatives Schnaufen, es weht direkt von den gutbürgerlichen (!) Stammtischen zu mir hinüber: Such dir doch einen anständigen Job. Niemand muss für dein Hobby zahlen.
Es schnaufen jene Eltern, die ihren Kindern die Entbehrungen an den Hals wünschen, die sie selbst erlitten haben. Danke für den Einwurf, Elfriede, auf Dich komme ich noch zu sprechen und zwar ausführlich.
In meinen saloppen Stunden, jenen Stunden, in denen mich ein Anhauch des süßen Laissez-faire überfraut, behaupte ich gerne, Schreiben sei eine Ersatzbefriedigung: Wer nicht stricken, nicht gärtnern, nicht holzhacken kann oder will, der schreibt. So ungefähr, nur eleganter formuliert, hoffe ich zumindest. Wenn ich auch aufreizende Parallelen aufzeigen könnte, wie meine Mutter und ich das größte Unglück durch aufopferungsvolle Ästhetisierungen zu bewältigen suchen, sie im Garten, ich am Schreibtisch, sind es nur dies: Parallelen, die sich erst im Unendlichen treffen.
Sprechen wir es also einfach mal aus, wofür wir uns gerne, so wir nicht unter uns sind, schämen. Wer (unter uns) kennt es nicht, wenn man beiläufig nach dem Beruf gefragt wird und entweder betreten oder kleinlaut Schriftsteller*in in sich hineinmurmelt (immer angsterfüllt, auf die saudumme Frage lauernd: Muss ich von Ihnen was gelesen haben?), wobei das schon die ausgesprochen Mutigen sind, die meisten begnügen sich mit dem etwas bodenständigeren Titel ‘Autor’, das nuschelt sich auch bequemer oder man erfindet schlagfertig einen Beruf. Ein alter Schulfreund pflegte auf die enervierende Frage, was er denn einmal werden wolle, zu erwidern: „Puppenarschlochdreher in Zeitz“. Die Fragen hatten sich sofort erübrigt. Aus ästhetischen Gründen und auch aus Wahrung des Urheberrechts (Danke, Tim!), kann ich diese schöne Formel leider nicht anwenden, bin aber für Vorschläge offen.
Halten wir einander die Hände und sagen es frei heraus: Es ist ein Beruf. Das tut gut, nicht wahr? Freilich hat uns niemand dazu gezwungen, aber der Beruf bringt seine eigenen Zwänge mit sich, er zwingt uns quasi in sich hinein. Weswegen oft von Berufung gesprochen wird, sinnvoll gesprochen werden kann, ohne Höheres im Hintersinn.
Dieser Beruf vereint durchaus berufstypische Merkmale (fast alle, bitte nachschlagen: „Beruf“), man geht einer Tätigkeit mehr oder minder geregelt nach, zumeist sehr ungeregelt, was bedeutet: man geht ihr immer nach. Arbeiten wir mal nicht offensichtlich an einem Text, arbeitet er an uns.
Wenn wir Glück haben, werden wir für das Vollbrachte gut, wenn wir Pech haben, werden wir schlecht, bis gar nicht bezahlt. So ein Pech aber auch, schnauft es, dein Pech, dann hast halt nix Ordentliches geschriem. Hach, wenn es so einfach wäre, ist es aber nicht. Pech gehabt. In diesem winzigen Marktsegment, genannt Literatur, korrelieren Qualität und Bezahlung nicht zwangsweise, bei Lichte besehen, sogar überraschend selten. Das ist ein Traum, den Schriftsteller*innen am liebsten träumen, zumeist die gutverdienenden. Träumt weiter. Obendrein gibt es sogenannte schwierige Gattungen, Lyrik zum Beispiel. Bis so ein schwieriges Gattungswesen zum Verkaufsschlager avanciert (wer hier nicht lacht, ist selbst schuld), braucht, der oder die – ebenfalls unter schwieriges Gattungswesen rubrizierte/r – Dichter*in schon einen langen, einen sehr s e h r langen Atem (er oder sie dürfte sich als Apnoetaucher hervorragend eignen, eine Eigenschaft allerdings, die er oder sie mangels Urlaub nicht unter Beweis stellen kann … schade, beides.) und am besten ein/e Mäzen*in in Hermelin.
„Warum nicht Taxifahren und nebenher schreiben, kann gerade der vom sozialistischen Gleichheitsgedanken Erfüllte sagen, es sind ja keine anderen Menschen, die einen besonderen Schutz, besondere Privilegien einfordern dürfen. Richtig, aber der mittelmäßige Elektriker ist geachteter, muß keinen zweiten Beruf ausüben, damit er Elektriker sein darf, der Preis seiner Arbeitsstunde erfährt die allgemein üblichen Indexsteigerungen (…) Auch wenn er langsam und ungeschickt ist, wird er seinen ortsüblichen Monatslohn erhalten und in der Berufsgruppe keiner öffentlichen Verhöhnung ausgesetzt sein.“
Das schrieb Elfriede Gerstl, von der eine andere Elfriede, jene, die die Gerstl finanziell unterstützte, später, nach ihrem Tod, schreiben wird: „Nein, wieder keine Wohnung für Sie, Frau Gerstl, kein Ersatz für eine verschwundene, gestohlene Wohnung, für garnichts (später gibts dann wenigstens Zahnersatz, aber auch den gibts nicht umsonst, umsonst ist nur der Tod) (…)Was ich noch sagen wollte: Auch Ihre Pension, Frau Gerstl, wird man Ihnen, wo Sie doch diesen Preis bekommen haben, für ein Jahr streichen müssen, denn ein Geld haben Sie ja jetzt, da brauchen Sie von uns nicht noch ein zweites dazu. Macht doch nichts. Geld ist sowieso schnell weg. Und das ist ja vielleicht auch der beste Ratschlag des Todes, den er uns allen gibt: möglichst wenig da sein und auch nicht dort sein, wo er heute um so und soviel Uhr mit seinem Lastwagen hinfahren wird. Lieber weg sein!“
Elfriede Gerstl beherzigte dies, sie war dann auch schnell weg, nämlich in auswegloser, erdrückender Armut verstorben, ein Schicksal, das sie mit vielen Kolleg*innen teilte (wie tröstlich, so eine Todes-Gemeinschaft), das sie kommen sah, das sie scharfzüngig in ihren brillanten Essays attackierte: „Vielleicht hätten die, die sich abgequält und selbst ausgebeutet haben, noch mehr Gutes geschrieben und wären weniger elend und früh dahingegangen, wenn die Leistung ihrer Hauptarbeit erkannt und entsprechend honoriert wäre.“
„Tot müsste man sein, habe ich noch 1980 geschrieben, was heißen sollte » nur ein toter Dichter, ist ein guter Dichter«.“ Das war der Auftakt zu Gerstls Essay „Ist die Literatur noch zu retten“. Dort findet sich auch dieser Satz: Die Literatur wirbt für alles außer für sich.
Zeit für eine kleine Werbepause: Die Buchläden erzielen (laut Börsenblatt des Deutschen Buchhandels – wer bei so einem schönen Titel nicht hellohrig wird), im Vergleich zum Vorjahr, sogar Gewinne. Das freut mich, da einer meiner besten Freunde ein Buchhändler ist, das freut meinen Freund, ach, es freut uns alle. Das Buch darf mit auf die Couch, denn Netflix (Netflix-Serien wurden übrigens auch, na was, ha, ganz genau: geschrieben) ist auch kein Dauerzustand oder wie alles von Dauer, irgendwann langweilig, wie der Tod, das schrieb auch eine der beiden Elfrieden. Diese Bücher allerdings, die nun wieder dem Zeitvertreib bzw. der Qualitätssteigerung /- sicherung der gerade reichlich vorhandenen, staatsverordneten Freizeit dienlich sind (gern geschehen!) und gerade eine kurze Konjunktur erleben, haben tatsächlich Autor*innen geschrieben, die oft am unteren Ende der finanziellen Kette sitzen, also ganz unten, genauer gesagt: Der / die Schriftsteller*in ist das Schlusslicht dieser Girlande.
So ein Schlusslicht kann ordentlich leuchten (Scheinwerfer bis Baulampe), solange die Auflage hoch genug ist, bei niedriger Auflage, als schwieriges Gattungswesen zum Beispiel, liegt die Leuchtkraft eher im unteren Durchschnitt (Fahrradlampe bis Kerze) und damit der / die Vermieter*in den Hermelin nicht verklappen muss, muss letztendlich, also ganz am Schluss, ordentlich gelesen werden. Gegen Geld nimmt man sich und das Vollbrachte – meist in Form eines Buches – mit und liest einem lesekundigen, alphabetisierten Publikum noch einmal vor, was sie auch ohne Extraaufpreis alleine lesen könnten, das ist seltsam, etwas verstörend, aber so ist es eben, das Überleben als Gattungswesen. Possierlich. Das Publikum hat verständliche Wünsche und will eben mal schauen, wie der so aussieht, so ein Autor und leider seltener so eine Autorin (aber für Ungerechtigkeiten innerhalb des Betriebs ist hier leider kein Platz, aber ich will sie nicht unerwähnt lassen, ein Eheu! an alle Minderheiten) wie der oder die so liest und es will auch gerne Fragenstellen über Privatimchen, es will dieses Wesen verstehen oder wenigstens mal ansehen. Fair enough. Ein bisschen Artenschau, wer geht nicht gerne in den Zoo und obendrein sprechen die Tiere. Ja mei!
Umso erstaunlicher, wie mutwillig diese schlichte Tatsache, also die Tatsache unserer Existenzsicherung beschwiegen wird. Sie steht einfach nicht zur Debatte, warum auch, das stand sie nie. Da bin ich nun endlich angelangt, am Sinn von blöd. Diese Debatte könnte durchaus auch ein Anstoß sein, schließlich fragte schon Mely Kiyak entrüstet in der ZEIT: „Ach, Literatur ist also nicht systemrelevant“. Wo sie doch als Lebensmittel gepriesen wird, was nur bedeuten kann, dass es sich um ein Mittel handelt, das den Fortbestand des Lebens sichert. Sicherlich zu hoch gegriffen, denn systemrelevant im systemrelevanten Sinne (bitte nachschlagen) ist Literatur freilich nicht, und doch wandert dieses Lippenbekenntnis fröhlich durch die Münder der Entscheidungsträger*innen, aber wahrscheinlich bezieht es sich nur auf die guten Dichter, jene, die tot sind.
Jan Wilm sagt in einem Interview: Wir hätten uns niemals auf die Frage nach Relevanz einlassen sollen. Recht hat er, schon Christoph Meckel merkte an, dass die Frage nach Sinn und Bedeutung von Literatur, von jenen gestellt und selbstgerecht diskutiert wurde, die Literatur weder brauchten, noch etwas von ihr wissen wollten. Was aber, wenn man sich dieser Frage nicht mehr entziehen kann, wenn sie lebensentscheidend wird, nicht nur für einzelne Biographien, die an dieser Frage zerbrochen sind (Legionen), sondern wenn unser kleines winziges Marktsegment, als genau dies bezeichnet wird: ein winziges Marktsegment, das den Forderungen des Marktes überantwortet, längst preisgegeben wurde. Wobei doch alles an Literatur genau diesen Anforderungen widerspricht. Die Bücher, die wir lieben, waren zumeist nicht marktkonform, sie waren nonkonform bzw. widerständig, sie waren zu früh oder zu spät und gleichwohl kamen sie immer pünktlich in unserem Leben an, wenn wir als Leser*innen nicht weiterwussten, die Welt oder uns nicht mehr verstanden, dann war sie da. Rechtzeitig. Auch wenn Sappho vor round about 2000 Jahren ihren Liebeskummer bedichtete, ruft alles aus diesen zarten Fragmenten: Jetzt. Gefühle altern nicht. Auch das macht diese Debatte so offenkundig blödig, dass sie sich wie üblich an Aktualitätsdiskurse – statt an Qualitätsdiskurse – verliert. Literatur ist, wo sie gelingt und sich ereignet, außerzeitlich, ihre Aktualität ist wie ein verschlossener Zeitkern, der zu glühen beginnt, wenn die Anklangsmaschine anläuft. Wenn wir auf eine Zeile treffen, die uns trifft. So einfach.
Ja, ja, es schnauft schon wieder. Es schnauft zurecht. Das ist eine ausgemachte Naivität. Ich weiß. Es ist eine Naivität, die ich glühend verteidige. (Allen, die auch an dieser Form poetischer Naivität kranken, sei Klaus Reicherts wunderbares Essay “Das Menschenrecht auf Poesie” hiermit anempfohlen. Ein Handbrevier.)
Wer mit der Scham per Du ist, kennt auch jene langer Nächte: Es wird getrunken, diskutiert und im schlimmsten Fall gestritten. Einst stritt ich mit Nadja Einzmann, das könnte ein hübscher Romantitel sein, ist aber eine profane Begebenheit. Dabei streite ich mich ungern und am ungernsten mit Nadja Einzmann. Wir stritten über Literatur, was sonst, darüber, ob Literatur etwas leisten könne, wichtig sei, das Leben ändere. Nix da, sagte Nadja, sie sagte es eleganter, gewiss, Literatur ist eine Form der Unterhaltung, sonst nichts. Vielleicht sagte sie auch Dienstleistung, ich weiß nicht mehr. Der Wein usw. Ich sagte: Nix da, wahrscheinlich genauso, bar aller Eleganz. Literatur kann das Leben verändern, so oder so ähnlich, ach, der Wein usw. (Hätte ich damals schon Klaus Reichert gelesen, was wäre uns erspart geblieben!) Erst heute verstehe ich unseren Streit. Ich wollte für eine Allgemeinheit deklamieren, was nur für mich als Einzelwesen gelten kann, ja, Literatur kann etwas verändern und zwar mich, ganz allein. Mag sein, es ist ein Handicap oder ein geistiges Defizit, aber ich kann meine Welt nur als Lesende und Schreibende be-greifen, ohne wäre ich verloren, vielleicht ist es meine Art zu Schweigen, weil auch ich, wie einst Ilse Aichinger, noch keine bessere Form gefunden habe oder um es mit Peter Esterhazy zu sagen: „Wenn es auch nicht zutrifft, daß ich statt des Lebens die Literatur wähle, weil sie das Leben sei, so scheint doch die Feststellung stimmig zu sein, daß ich in Papiernähe am ehesten ich bin, was ich selbstverständlich nicht als Gewinn hinstellen möchte.“
Nein, das Schreiben ist selten Gewinn, lieber Peter, aber das Lesen, das Lesen, das können wir getrost auf der Haben-Seite verbuchen.
Nun wurde schon umfangreich gedankt, aber noch nicht (niemals) genug, ich danke meinen lebenden und meinen toten Schrift stellenden Freund*innen, ich danke, dass sie mir die Welt fühlbar machen, meine Fortdauer stützen, indem sie sich um Kopf und Kragen schreiben oder schrieben. Ich danke und fordere einen Mindestlohn … auch postum, dann könnten die Vorausgestorbenen immerhin die Lebenden noch ein bissl am Leben erhalten, gell … allein durch ihre Worte!
(nh)